Ich stehe sicher wie ein Berg

von Thomas Bannenberg

Die Philosophie des Yoga ist bereits einige tausend Jahre alt. In ihrer körperorientierten Form, die als Hatha-Yoga weltweite Verbreitung gefunden hat, ist das Ziel des Übens, den Körper beweglich und frei von Verspannungen zu erhalten bzw. wieder in einen solchen Zustand zu führen.
Jede körperliche Haltung ist aber immer auch ein Ausdruck der inneren Befindlichkeit des Menschen. Umgekehrt wirken gezielt angewandte äussere Haltungen positiv ein auf unsere Stimmung und unser Gefühl - und bei regelmässiger Wiederholung auch auf unser Denken.
So lässt sich das Ziel, was Hatha-Yoga durch die verschiedenen Übungen erreichen möchte so zusammenfassen: in einem beweglichen Körper ein freier Geist.
Dabei geht es eben nicht um die Trennung von Körper, Geist oder "Seele", sondern um die Einheit. "Yoga" ist ein Wort aus dem Sanskrit (einem alten indischen Dialekt) und bedeutet "Verbindung".
Neben einer grossen Zahl sehr unterschiedlicher Körperhaltungen, die mit einfachen Dehnübungen beginnen und zu teils sehr komplexen Haltungen für Fortgeschrittene führen, spielt vor allem der Atem eine grosse Rolle beim Üben. Die Basis allen Übens ist das Wechselprinzip von Anspannung - Entspannung.
Kinder üben gerne Yoga, weil es ihrem natürlichen Bewegungsdrang neue Möglichkeiten der körperlichen Selbsterfahrung bietet.
Auch schon im Vorschulalter, ab ca. drei Jahren, können Kinder mit entsprechender Anleitung Yoga üben. In meine Gruppen und in Kindergärten, in denen ich unterrichte, kommen neben "unauffälligen" Kindern meist solche mit Problemen wie Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, Stottern, mit senso-motorischen Defiziten und Verhaltensauffälligkeiten, aber auch Kinder mit Asthma, Mukoviszidose oder Migräne.
Dabei baue ich eine Yogaeinheit stets so auf, dass ich anfangs den Kindern Bewegungsspiele zur Auflockerung, aber auch zum "Abtoben", anbiete. Danach folgen die eigentlichen Yogahaltungen, die abgeschlossen werden mit Übungen zur Atemwahrnehmung und Entspannung. Das Ende einer Einheit bildet eine kurze Meditation mit z.B. einer Kerze in der Mitte unserer Runde oder auch ein Märchen oder eine Phantasiereise.

Wie wirken aber nun die Haltungen des Yoga auf Kinder mit sogenannten Auffälligkeiten oder Lernstörungen?
Vielfach liegt diesen Problemen ein innerer Spannungszustand bei den Kindern zugrunde, der in ihrer Person, aber auch in ihrem sozialen Umfeld begründet ist. Da im Verlauf einer Yoga-Einheit von ca. 30 Minuten bei Kindern im Vorschulalter der ganze Körper bewegt, gedehnt und gestreckt wird, lösen sich "fast von alleine" durch das äussere (= körperliche) Üben auch die inneren Verspannungen. Dabei achte ich darauf, dass die Kinder nicht die Luft anhalten, wenn es ihnen vielleicht anstrengend wird, sondern mit viel Freude und Lust erleben lernen, wie sich ihre Stimmung verbessert, wenn sie einmal richtig kräftig prusten oder schnaufen können. Bereits durch das intensive Ausatmen können sehr viele psychische Spannungen gelöst und abgeleitet werden. Dies geschieht spielerisch, indem wir beim Üben z.B. einen starken Wind über die Berge pfeifen lassen.
Zuerst stellen wir uns leicht gegräscht hin, strecken die Arme zur Decke und versuchen, uns zu fühlen wie ein "Berg". Wir spüren unsere Verbindung zur Erde und stehen "gross und erhaben wie die Alpen". Dann lassen wir den Wind kommen und atmen dabei durch die Nase ein und lassen das Windgeräusch durch ein Ausatmen auf einem langgezogenen "PF" entstehen. Dadurch wird die Zwerchfelltätigkeit angeregt und die Kinder atmen automatisch tief ein und aus. Hat der Wind die Wolken weggeblasen, strahlt wieder die Sonne, die wir durch eine grosse Dehnbewegung der Arme, die wir im Kreis von innen nach aussen führen, erleben. Gleichzeitig strahlt die Sonne auch aus unserem Gesicht, d.h. wir haben die Augen weit offen und lächeln uns gegenseitig zu.
Etwas unterhalb der Bergspitzen erstreckt sich der Bergwald. Die Kinder stellen Bäume dar, spüren dabei wieder ihre Verbindung zur Erde und lassen die Äste ( = Arme) sanft im Wind wiegen. Die "klassische" Baumhaltung des Hatha-Yoga, bei der wir auf einem Bein stehen, würde die Kinder noch überfordern. Deshalb kommt dieser "Einbeinstand" eher als "Storch" daher, der mit hochgezogenem Bein auf einen Frosch lauert oder mit staksendem Schritt durch das Gras läuft. Hat der "Storch" einen Frosch entdeckt, so beugt er sich weit nach vorn unten und greift ihn mit dem langen Schnabel ( = Arme) und streckt sich wieder weit nach oben, damit der Frosch den langen Hals hinunter rutschen kann. Natürlich lassen sich die Frösche nicht einfach auffressen, also hüpfen alle "Frösche" so schnell und weit es geht in Sicherheit. Ein gutes Versteck ist der Schilf am Rand eines Wassers: Wir stehen aufrecht und schieben die aneinandergelegten Hände langsam nach oben, denn der Schilf treibt jetzt eine Blüte aus. Wenn im Spätsommer der Wind hindurch streicht (mit einem leichten "hu", was auch wieder die Ausatmung anregt und insgesamt die Atmung vertieft) fliegen die Samen durch die Luft: mit den Fingern ahmen wir diese Bewegung nach und kommen langsam in die Hocke, bis die Finger/Samen den Boden berühren. Nun machen wir uns ganz klein, denn jetzt sind wir die Samen im Boden und warten bis der Winter vorüber ist. Dann bauen wir uns langsam wieder auf, d.h. wir wachsen wie die neuen Schilfrohre im Frühjahr bis wir uns wieder ganz lang zur Decke strecken.

Aus der Beobachtung der Natur, der Pflanzen und Tiere, hat sich der Hatha-Yoga in Indien entwickelt. So finden wir sehr viele Übungen mit phantasieanregenden Namen wie den Löwen, den Berg, das Krokodil, das Kuhmaul und die Schildkröte. Der Ursprung des Hatha-Yoga ist also der kindlichen Wahrnehmung sehr nah und ähnlich, denn auch Kinder wollen das, was sie um sich herum wahrnehmen, durch Nachahmung verinnerlichen. Durch das bewusste Tun können sie sich so ganz anders erleben. Das schwache Kind empfindet sich tatsächlich im Üben als starker Löwe, das labile Kind kann sich als ein mächtiger Berg spüren. Durch die Atemübungen werden innere Spannungen abgebaut und dadurch, dass wir im Yoga nicht in jeder Einheit etwas völlig Neues einführen, sondern Bekanntes wiederholen und durch andere Übungen ergänzen, erkennt ein lernschwaches Kind seine Fähigkeit und (vielleicht) auch seine Art zu lernen: so wie es uns allen am leichtesten fällt, weil wir es schon als Säugling getan haben: durch Be-greifen, um so unsere Umwelt und uns darin zu er-leben.
Die Wahrnehmung der Kinder hilft ihnen, das "Wesen" des Hatha-Yoga, die Philosophie als geistigen Hintergrund der Übungen intensiv und direkt zu erfahren. Anders als im Unterricht für Erwachsene steht das Kognitive nicht im Vordergrund, sondern das unmittelbar Emotional-Spirituelle, wodurch wir mit den Kindern vielleicht sogar näher an den Wurzeln des Yoga sind. Durch die vielfältigen Bewegungen und Haltungen des Hatha-Yoga wird eben nicht nur die Motorik und Körperwahrnehmung gefördert, sondern auch Konzentration und Lernverhalten. Auf einer tieferen Ebene erfahren die Kinder Hilfe auf ihrem Weg der Inkarnation in dieses Leben. Denn:
Kinder üben nicht Yoga, sie erleben ihn.


von Thomas Bannenberg, erschien als Artikel in der Zeitschrift "DAO" im Jahr 1997

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